Vice war nicht nur ein Medienunternehmen, es verkörperte einen Lifestyle – und bediente ihn zugleich. Das Deutschland-Büro eröffnete 2005 in Berlin, wo sich junge Menschen im Dunstkreis des inoffiziellen Mottos "Arm, aber sexy" ausprobierten, kurz bevor Smartphones und Social Media aufkamen. Vice traf genau dieses Lebensgefühl, versprach etwas Krasses, Ungefiltertes, Aufregendes. Es versorgte die Generation Praktikum vom Nachwende-Berlin aus mit Storys über Sex, Drogen und allerlei Abseitigem – erst als Gratis-Printheft, später als global agierender Video-Publisher und News-Netzwerk. 2024, exakt 30 Jahre nach der Gründung des ersten Vice-Büros in Montreal, meldete Vice weltweit Insolvenz an. Die sich wandelnde Medienlandschaft, interne Machtstrukturen und individuelle Hybris hatten dem überlaut zelebrierten Hedonismus den Stecker gezogen.
Mit der 'Vice-Story' erzählen wir eine spannende Rise and Fall-Geschichte. Vice hat den Journalismus nachhaltig verändert und war gleichzeitig eine der führenden globalen Brands für Millenials. Sidestories führen uns von Berlin nach Schwedt, von New York über London, Belize und die Ukraine bis nach Nordkorea. Gespickt ist diese rastlose Jagd nach den besten Geschichten und Geld mit jeder Menge Partys und Drogen. «
Kristian Costa-Zahn, Programmgeschäftsführer und Head of Content bei ARD Kultur
Was 1994 als Hirngespinst dreier Arbeitsloser in Montreal begann, wuchs binnen kürzester Zeit zu einem globalen und milliardenschweren Medienimperium heran. Auf dem Weg dorthin hatte Vice die Hürde vom Print- zum Onlinejournalismus – anders als weite Teile der arrivierten Presse – mit Chuzpe gemeistert. Um Normen und Gepflogenheiten scherte man sich dabei nicht immer. Aus Prinzip überschritt man vor allem in den Anfangstagen die Grenzen des guten Geschmacks und schrieb – durchaus politisch unkorrekt, zynisch und von purem Hedonismus getrieben – über Partys, Sex, Drogen, Gewalt und alltägliche Absurditäten.
So schuf Vice eine eigene Ästhetik, vernachlässigte dabei aber journalistische Standards. Die Trennlinie zwischen Journalismus und Werbung wurde unverhohlen aufgeweicht, indem man begann, maßgeschneiderte Geschichten rund um die Marken zahlungskräftiger Werbekunden zu stricken. Auch mit Diktaturen und Gewaltherrschaft zeigte man wenig Berührungsängste und berichtete unbekümmert aus Nordkorea, lieferte bereitwillig Innenansichten vom "Islamischen Staat" (IS) und ging mit einem unter Mordverdacht stehendem Software-Pionier auf die Flucht durch Mittelamerika. Dieser ungeschönte, sogenannte "Gonzo-Journalismus" verschob die Grenzen des alt-tradierten Journalismus weg von der objektiven Berichterstattung. Reporterinnen und Reporter wurden mitunter selbst Teil des Geschehens.
Das kam gut an, und das Unternehmen entwickelte sich zu einer weltweit bekannten Jugend- und Lifestylemarke und zu einem globalen Medien- und Marketingkonzern, der 35 Büros weltweit unterhielt. Schätzungen taxierten den Wert zeitweise auf über vier Milliarden US-Dollar, was u. a. auch Investmentprofis wie Rupert Murdoch oder den Disney-Konzern auf Vice aufmerksam werden ließ.
Geld gab es dennoch kaum bei Vice. Wozu auch? Vice lockte mit der Aussicht auf einzigartige Erlebnisse und Ruhm im Bekanntenkreis. In der Doku äußern sich ehemalige Macherinnen und Macher aus den USA, Großbritannien und Deutschland über das schillernde Popkultur-Phänomen. Von ihren Lehrjahren bei Vice Deutschland berichten u. a. Thilo Mischke (heute Pro 7), Martina Kix (Spiegel) und Manuel Möglich (ex-ZDFneo).
Weitere Protagonisten sind Vice-Korrespondent Simon Ostrovsky, der 2014 in der Ukraine in Gefangenschaft russischer Separatisten geriet, und Vice-Fotoreporter Robert King, der erst mit dem Tatverdächtigen John McAfee auf die Flucht ging und dann versehentlich zu dessen Verhaftung beitrug. Peaches, die in Berlin lebende kanadische Musikerin und Szenefigur, äußert sich zu den legendären Vice-Partys und Konzerten, die sie kuratierte.
Die dreiteilige Doku "Die Vice-Story – Gosse. Gonzo. Größenwahn." ist eine Produktion der Beetz Brothers in Koproduktion mit Hyperbole im Auftrag von ARD Kultur, SWR, NDR, HR und RBB.
Die Doku-Serie ist ab 11. Dezember bei ARD Kultur und in der ARD Mediathek abrufbar.