Händels Musik wird heute mehr gespielt denn je – ob im Film, ob auf Trauerfeiern oder Hochzeiten. Viele Stücke sind heute Hits, vom "Halleluja" bis zum "Largo". Die Opern sind fester Bestandteil der Spielpläne und werden nach wie vor viel aufgenommen. Kaum ein Chor kommt ohne den "Messias" aus. Warum uns diese Musik noch immer so nah ist, versuchen wir in der ersten Folge herauszufinden
Händels Vater hielt nichts von den musikalischen Ambitionen seines Sohnes. Zurückhalten konnte er ihn jedoch nicht. Händel zog es von der protestantischen Kirchenmusik hin zur Oper.
Händel wollte nicht in Hamburg bleiben. Italien lockte: Mit hochkarätigen Kollegen, mit betuchten Mäzenen und mit zahllosen Gelegenheiten, das eigene Talent zu entwickeln und zu beweisen: Ob mit katholischer Kirchenmusik, Oratorien oder schließlich in Venedig mit der Oper.
Händel lernte in Italien viel. Zum einen den italienischen Stil und wie man ihn effektvoll erweitert. Zum anderen, wie man Freunde und Förderer gewinnt und sich gegen Konkurrenz durchsetzt. Dass man ihn in Rom „Il Sassone“ nannte, benennt nicht nur seine Herkunft aus Sachsen, sondern ist auch ein Zeichen von erstem Starruhm.
Nach England geht man, um etwas zu verdienen, sagte Händels Jugendfreund Johann Mattheson. Und so plant Händel sein Londoner Debüt sorgfältig und setzt auf Zugnummern, die sich schon bewährt haben: Mit der Zauberoper „Rinaldo“ feiert er einen durchschlagenden Erfolg in einem Land, in dem es die italienische Oper nicht leicht haben wird.
In England findet Händel vollkommen andere Bedingungen vor als im armen Deutschland oder im katholischen Italien. Er sucht die Nähe zum Königshaus und die Unterstützung potenter Adliger und schafft damit die Grundlage für seinen künstlerischen und nicht zuletzt finanziellen Erfolg.
In England hatte sich eine eigene Form des musikalisch reich begleiteten Theaters herausgebildet. Der italienische Operntyp blieb den Engländern bis zu Händels ersten Erfolgen lange fremd und irrational. Händel machte aus der italienischen Oper ein Geschäft – aber eines mit dramatischen Rückschlägen.
Händel ging immer wieder auf Reisen durch Europa, um berühmte Sängerinnen und Sänger nach London zu holen. Sie waren die Stars der Oper, und ihrer Eitelkeit musste bis in die Verteilung der Arien Rechnung getragen werden – aber wenn sie seinen künstlerischen Vorstellungen nicht folgen wollten, konnte er auch damit drohen, sie aus dem Fenster zu werfen.
Zwar ist die Oper des Spätbarock durch ihr Ausstattungswesen und ihre Virtuosität keineswegs rational. Andererseits erzählt Händel in seinen Oratorien Befreiungsgeschichten, in denen sich Gedanken der wichtigsten philosophischen Strömung seiner Zeit wiederfinden. Und die Oratorien werden von Schlüsselbegriffen der Aufklärung geprägt wie "Disinganno" und "Moderato": Erkenntnis durch Ent-Täuschung und Mäßigung.
Eine Oper besteht aus Arien, Duetten und Rezitativen - bei Händel nicht anders als bei allen anderen Zeitgenossen. Was unterscheidet seine Opern dennoch von denen seiner Kollegen - im Kleinen der einzelnen Stücke wie im Großen der Dramaturgie und Figurenzeichnung?
Händels Opernhandlungen sind oft kaum nacherzählbar in ihren emotionalen Windungen und intriganten Verwicklungen. Welches Interesse hatten er und seine Zeit an ausgerechnet diesen Stoffen - und warum wurden sie ausgerechnet so erzählt?
Händel hatte schon als 25jähriger Verbindung zum künftigen englischen König und bekundete seine Nähe zum Königshaus lebenslang mit zahlreichen Werken von der Wasser- bis zur Krönungsmusik. War seine Treue zur Krone nur Kalkül oder brachte er seiner Wahlheimat patriotische Gefühle entgegen?
Nach dem Boom kam die Krise: Die Engländer begannen, zumal nach dem Erfolg von John Gays pfiffig-parodistischer "Beggar’s Opera", wieder mit der italienischen Oper zu fremdeln. Händel geriet mit seinem Geschäftsmodell in Schwierigkeiten - aber warum hielt er trotz finanzieller Verluste so lange daran fest?
Händel wurde protestantisch erzogen, hatte seine erste Stellung als Organist in Halle, schrieb aber Musik sowohl für die katholische als auch die anglikanische Kirche - und hat dennoch lebenslang der "Gemeinde, darin ich geboren und erzogen" die Treue gehalten.
Mit Händel konnte man Geld verdienen - dachten sich Verlage und brachten seine Musik für den Hausgebrauch heraus, oft ohne Erlaubnis des Komponisten. Der aber wusste selbst, wie man auch diesen Markt gewinnbringend mit Kammer- und Cembalomusik bespielt.
Händel war ein Mensch von großer sozialer Intelligenz. Mühelos vermochte er berufliche Verbindungen zu knüpfen und pflegte lebenslange Freundschaften, ob zu Kollegen wie Telemann oder zu seinem Mitarbeiter Christopher Smith.
Händel komponierte viel und schnell - seine Librettisten staunten darüber oder fühlten sich nicht ernst genommen. Dabei klaute Händel eifrig bei seinen Zeitgenossen. Schon damals erregten diese "Entlehnungen" Verwunderung und nicht selten Unmut.
Händels Geschäft mit der Oper läuft nicht mehr gut. Aber sein erstes, vor vielen Jahren für einen Förderer geschriebenes Oratorium "Esther" wird plötzlich zum Publikumsrenner. Also orientiert sich Händel mit 53 Jahren neu: "Saul" war der erste bewusste Schritt in Richtung Oratorium.
Wie die meisten Barockkomponisten hat sich auch Händel als Mensch nicht zu erkennen gegeben und weder Tagebuch noch viele Briefe geschrieben – wir wissen am Ende nicht wirklich, wie er war. Ungewöhnlich, weil sein Ruhm schon zu Lebzeiten so groß war, dass man ihm ein Denkmal setzte.
Die meisten Komponisten konnten vom Komponieren nicht leben. Händel dagegen erwirtschaftete mit übermenschlichem Fleiß derartige Überschüsse, dass er sie anlegen, in eine Kunstsammlung stecken und für wohltätige Zwecke spenden konnte und dennoch als einer der reichsten Komponisten aller Zeiten starb.
Zahlreiche Legenden ranken sich um Händels "The Messiah". Betrachten wir es nüchterner als eines der ungewöhnlichsten Oratorien mit einer der ungewöhnlichsten Aufführungsgeschichten von der Benefizveranstaltung im Waisenhaus bis zur Monumentalveranstaltung als nationaler Angelegenheit.
Für seine Zeitgenossen war ganz klar: Oratorien dürfen aufgrund ihrer biblischen Stoffe nicht auf die Opernbühne. Diese Empfindlichkeit verstehen wir nicht mehr: Oper und Oratorium scheinen sich kaum zu unterscheiden - aber ist das wirklich so?
Sie sind kurz hintereinander in der gleichen Ecke Deutschlands geboren worden und haben sich dennoch nie getroffen. Vermutlich hätten sie sich auch nicht viel zu sagen gehabt - zu unterschiedlich sind ihre Konzepte von Musik, vom kompositorischen Detail bis zur öffentlichen Funktion.
Händels letzte Jahre waren enorm erfolgreich. Mit dem Oratorium hatte er den Nerv der Engländer getroffen, mit den eingelegten Orgelkonzerten präsentierte er sich als noch immer unübertroffener Virtuose - und mit seinem letzten Werk greift er, mittlerweile erblindet, auf sein erstes italienisches Oratorium zurück und schafft einen bewussten Abschluss seines Lebenswerks.
Beethoven erklärte Händel zum größten Komponisten, Haydn, Mozart oder Mendelssohn waren massiv angeregt von der appellativen Kraft seiner Musik, und auch auf britische Kollegen wirkte der deutsche Einwanderer vorbildlich.
Händel wurde nach seinem Tod kulturell vereinnahmt, zunächst von England, dann auch von Deutschland bis zu den finsteren Umdichtungen seiner Oratorien unter den Nazis. Heute verehrt man ihn als kosmopolitischen Künstler, dessen Musik man erst wieder zu spielen lernen musste.
rbb | 2022 | 26 Folgen
Eine Musikserie von Peter Uehling
Eine Produktion von rbb Kultur, Rundfunk Berlin-Brandenburg
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