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Es ist kein Geschenk des Zufalls oder der Laune, was Ihnen hier dargebracht wird. Aus wohlüberlegten Gründen und mit freudigem Herzen biete ich Ihnen an das Beste, was ich zu geben vermag. Als Zeichen meines Dankes für das Vertrauen, was Sie mir schenken.
Die Menge ist nicht dazu geeignet, die Wahrheit, sondern nur den Schein zu prüfen; den geheimen Wegen einer tiefen Natur nachzuspüren, das Rätselhafte in ihr aufzulösen ist ihr versagt, sie spricht nur ihre Täuschungen aus, erzeugt hartnäckige Vorurteile gegen bessere Überzeugung und beraubt den Geist der Freiheit, das vom Gewöhnlichen Abweichende in seiner Eigentümlichkeit anzuerkennen. In solchen Verwirrungen waren auch meine Ansichten von Ihnen verstrickt, während Sie aus eigner Bewegung, jedes verkleinernde Urteil über mich abweisend, mir freundlich zutrauten: »Sie würden Herz und Geist durch mich bereichern können«, wie sehr hat mich dies beschämt! – Die Einfachheit Ihrer Ansichten, Ihrer sich selbst beschauenden, selbstbildenden Natur, Ihr leiser Takt für fremde Stimmung, Ihr treffendes fertiges Sprachorgan; sinnbildlich vieldeutig in melodischem Stil innere Betrachtung wie äußere Gegenstände darstellend, diese Naturkunst Ihres Geistes, alles hat mich vielfältig über Sie zurechtgewiesen und mich mit jenem höheren Geist in Ihnen bekannt gemacht, der so manche Ihrer Äußerungen idealisch parodiert.
Einmal schrieben Sie mir: »Wer meinen Park sieht, der sieht in mein Herz.« Es war im vorigen Jahr in der Mitte September, daß ich am frühen Morgen, wo eben die Sonne ihre Strahlen ausbreitete, in diesen Park eintrat; es war große Stille in der ganzen Natur, reinliche Wege leiteten mich zwischen frischen Rasenplätzen, auf denen die einzelnen Blumenbüsche noch zu schlafen schienen; bald kamen geschäftige Hände, ihrer zu pflegen, die Blätter, die der Morgenwind abgeschüttelt hatte, wurden gesammelt und die verwirrten Zweige geordnet; ich ging noch weiter an verschiedenen Tagen und zu verschiedenen Stunden nach allen Richtungen, so weit ich kam, fand ich dieselbe Sorgfalt und eine friedliche Anmut, die sich über alles verbreitete. So entwickelt und pflegt der Liebende den Geist und die Schönheit des Geliebten, wie Sie hier ein anvertrautes Erbteil der Natur pflegen. Gern will ich glauben, daß dies der Spiegel Ihres tiefsten Herzens sei, da es so viel Schönes besagt; gern will ich glauben, daß das einfache Vertrauen zu Ihnen nicht minder gepflegt und geschätzt sei als jede einzelne Pflanze Ihres Parks. Dort hab' ich Ihnen auch aus meinen Briefen und dem Tagebuch an Goethe vorgelesen, Sie haben gern zugehört; ich gebe sie Ihnen jetzt hin, beschützen Sie diese Blätter wie jene Pflanzen, und so treten Sie abermals hier zwischen mich und das Vorurteil derer, die schon jetzt, noch eh' sie es kennen, dies Buch als unecht verdammen und sich selbst um die Wahrheit betrügen.
Lassen Sie uns einander gut gesinnt bleiben, was wir auch für Fehler und Verstoße in den Augen anderer haben mögen, die uns nicht in demselben Lichte sehen, wir wollen die Zuversicht zu einer höheren Idealität, die so weit alle zufä1lige Verschuldungen und Mißverständnisse und alle angenommene und herkömmliche Tugend überragt, nicht aufgeben. Wir wollen die mannigfaltigen edlen Veranlassungen, Bedeutungen und Interesse, verstanden und geliebt zu werden, nicht verleugnen, ob andre es auch nicht begreifen, so mag es ihnen ein Rätsel bleiben.
Diesmal hat Sie mir's nicht recht gemacht, Frau Rat; warum schickt Sie mir Goethes Brief nicht? – Ich hab' seit dem 13. August nichts von ihm, und jetzt haben wir schon Ausgang September. Die Staël mag ihm die Zeit verkürzt haben, da hat er nicht an mich gedacht. Eine berühmte Frau ist was Kurioses, keine andre kann sich mit ihr messen, sie ist wie Branntwein, mit dem kann sich das Korn auch nicht vergleichen, aus dem er gemacht ist. So Branntwein bitzelt auf der Zung' und steigt in den Kopf, das tut eine berühmte Frau auch; aber der reine Weizen ist mir doch lieber, den säet der Säemann in die gelockerte Erd', die liebe Sonne und der fruchtbare Gewitterregen locken ihn wieder heraus, und dann übergrünt er die Felder und trägt goldne Ähren, da gibt's zuletzt noch ein lustig Erntefest; ich will doch lieber ein einfaches Weizenkorn sein als eine berühmte Frau und will auch lieber, daß Er mich als tägliches Brot breche, als daß ich ihm wie ein Schnaps durch den Kopf fahre. – Jetzt will ich Ihr nur sagen, daß ich gestern mit der Staël zu Nacht gegessen hab' in Mainz; keine Frau wollt' neben ihr sitzen bei Tisch, da hab' ich mich neben sie gesetzt; es war unbequem genug, die Herren standen um den Tisch und hatten sich alle hinter uns gepflanzt, und einer drückte auf den andern, um mit ihr zu sprechen und ihr ins Gesicht zu sehen; sie bogen sich weit über mich; ich sagte: »Vos Adorateurs me suffoquent«, sie lachte. – Sie sagte, Goethe habe mit ihr von mir gesprochen; ich blieb gern sitzen, denn ich hätte gern gewußt, was er gesagt hat, und doch war mir's unrecht, denn ich wollt' lieber, er spräch' mit niemand von mir; und ich glaub's auch nicht, – sie mag nur so gesagt haben; – es kamen zuletzt so viele, die alle über mich hinaus mit ihr sprechen wollten, daß ich's gar nicht länger konnte aushalten; ich sagt' ihr: »Vos lauriers me pèsent trop fort sur les épaules.« Und ich stand auf und drängt' mich zwischen den Liebhabern durch; da kam der Sismondi, ihr Begleiter, und küßt' mir die Hand, und sagte, ich hätte viel Geist, und sagt's den andern, und sie repetierten es wohl zwanzigmal, als wenn ich ein Prinz wär', von denen findet man auch immer alles so gescheit, wenn es auch das Gewöhnlichste wär'. – Nachher hört' ich ihr zu, wie sie von Goethe sprach; sie sagte, sie habe erwartet, einen zweiten Werther zu finden, allein sie habe sich geirrt, sowohl sein Benehmen wie auch seine Figur passe nicht dazu, und sie bedauerte sehr, daß er ihn ganz verfehle; Fr. Rat, ich wurd' zornig über diese Reden (»das war überflüssig«, wird Sie sagen), ich wendt' mich an Schlegel und sagt' ihm auf deutsch: die Frau Staël hat sich doppelt geirrt, einmal in der Erwartung, und dann in der Meinung; wir Deutschen erwarten, daß Goethe zwanzig Helden aus dem Ärmel schütteln kann, die den Franzosen so imponieren; wir meinen, daß er selbst aber noch ein ganz andrer Held ist. – Der Schlegel hat unrecht, daß er ihr keinen bessern Verstand hierüber beigebracht hat. Sie warf ein Lorbeerblatt, womit sie gespielt hatte, auf die Erde; ich trat drauf und schubste es mit dem Fuß auf die Seite und ging fort. – Das war die Geschichte mit der berühmten Frau; hab' Sie keine Not mit ihrem Französisch, sprech' Sie die Fingersprach' mit ihr und mache Sie den Kommentar dazu mit ihren großen Augen, das wird imponieren; die Staël hat ja einen ganzen Ameisenhaufen Gedanken im Kopf, was soll man ihr noch zu sagen haben? Bald komm' ich nach Frankfurt, da können wir's besser besprechen.
Hier ist's sehr voll von Rheingästen; wenn ich morgens durch den dicken Nebel einen Nachen hervorstechen seh', da lauf ich ans Ufer und wink' mit dem Schnupftuch, immer sind's Freunde oder Bekannte; vor ein paar Tagen waren wir in Nothgottes, da war eine große Wallfahrt, der ganze Rhein war voll Nachen, und wenn sie anlandeten, ward eine Prozession draus und wanderten singend, eine jede ihr eigen Lied, nebeneinander hin; das war ein Schariwari, mir war angst, es möcht' unserm Herrgott zuviel werden; so kam's auch: er setzte ein Gewitter dagegen und donnerte laut genug, sie haben ihn übertäubt, aber der gewaltige Regenguß hat die lieben Wallfahrer auseinander gejagt, die da im Gras lagen, wohl Tausende, und zechten; – ich hab' grad keinen empfindsamen Respekt vor der Natur, aber ich kann's doch nicht leiden, wenn sie so beschmutzt wird mit Papier und Wurstzipfel und zerbrochnen Tellern und Flaschen, wie hier auf dem großen grünen Plan, wo das Kreuz zwischen Linden aufgerichtet steht, wo der Wandrer, den die Nacht überrascht, gern Nachtruhe hält und sich geschützt glaubt durch den geweihten Ort. – Ich kann Ihr sagen, mir war ganz unheimlich; ich bin heut' noch kaputt. Ich seh' lieber die Lämmer auf dem Kirchhof weiden als die Menschen in der Kirch'; und die Lilien auf dem Feld, die, ohne zu spinnen, doch vom Tau genährt sind, – als die langen Prozessionen drüber stolpern und sie im schönsten Flor zertreten. Ich sag' Ihr gute Nacht, heut' hab' ich bei Tag geschrieben.
Gelber Fluss, der träg sein Wasser dahinwälzt, Weiden, die ihre Zweige in der lauen Augustluft bewegen, und vier Kinder, die berühmte Leute spielen – ein Spiel, das die berühmten Leute selbst zweifellos auch spielen müssen. Vier Kinder mit hellen Stimmen, harmlose, frische Kinder, die in ihrer gesegneten Unschuld nichts davon wissen, daß mit Fünfundvierzig Kompromiß und Müdigkeit da sein werden.
Die drei Jungen, Ben, Dick und Winthrop, hatten das ganze Frühjahr hindurch unter Geschichtsunterricht gelitten und bemühten sich jetzt, etwas Ordentliches damit anzufangen, indem sie Königin Isabella und Kolumbus spielten. Es herrschte Uneinigkeit darüber, wer von ihnen Isabella sein sollte. Während sie noch darüber stritten, kam in das Weidengehölz, jenes kleine Heiligtum der Kindheit, ein singendes Mädchen.
»Nanu, da kommt ja Ann Vickers. Die wird die Isabella sein«, rief Winthrop.
»Ach herrje, nein, sie wird uns das Ganze versauen«, sagte Ben. »Aber die beste Isabella wird sie wahrscheinlich doch sein.«
»Nö, gar nicht! Sie taugt nichts beim Baseball.«
»Nein, beim Baseball taugt sie nichts, aber sie hat einen Schneeball auf Reverend Tengbom geschmissen.«
»Ja, stimmt, den Schneeball hat sie geschmissen.«
Das Mädchen blieb, die Hände in die Seiten gestützt, vor ihnen stehen – ein stämmiges Ding mit kräftigen Schultern und mageren Beinen. Außer ihrem frischen, reinen Teint hatte sie nur eine Schönheit: dunkle, überraschend große, leuchtende Augen.
»Komm her, Isabella und Kolumbus spielen«, rief Winthrop ihr zu.
»Kann nicht«, antwortete Ann Vickers. »Ich spiel Pedippus.«
»Verflixt noch mal, was ist denn Pedippus?«
»Das war ein alter Eremitaner. Vielleicht hat er auch Pelippus geheißen. Auf jeden Fall war er ein alter Eremitaner. Er war ein mächtiger Prinz, und dann verließ er das Königsschloß, weil er sah, daß es sündhaft war, und er entsagte allen Freuden des Fleisches und ging in die Wüste und lebte dort von – ach, von Hafermehl und Erdnußbutter und so weiter und so weiter, in der Wüste nämlich, und betete die ganze Zeit.«
»Das ist ein miserabliges Spiel. Hafermehl!«
»Aber die wilden Getiere der Wüste, die waren immer in seiner Nähe, Pumas und so, und er zähmte sie, und sie kamen immer zu ihm, um ihn predigen zu hören. Jetzt geh ich ihnen predigen! Und ganz, ganz große Bären!«
»Ach los, spiel erst mal Isabella«, sagte Winthrop. »Du kannst auch meinen Revolver haben, solang du Isabella bist – aber wiedergeben – wenn ich Kolumbus bin, muß ich ihn haben!«
Er reichte ihr den Revolver, und sie untersuchte ihn kritisch. Obwohl es in der ganzen Kinderwelt weit und breit bekannt war, daß Winthrop ein so denkwürdiges Besitztum sein eigen nannte, hatte sie die berühmte Waffe noch niemals in der Hand gehabt. Es war ein richtiger Revolver, Kaliber 6 mm, von dem kein einziger Teil fehlte; allerdings war der Lauf so verrostet, daß man an der Mündung keinen Zahnstocher hineingebracht hätte. Bezaubert und ein wenig ängstlich schwenkte Ann ihn hin und her. Daß sie ihn in der Hand hatte, flößte ihr ein Gefühl der Heldenhaftigkeit und des Tatendranges ein, und wahrscheinlich verlor sie augenblicklich die ganze keusche Erhabenheit des Eremiten Pedippus.
»Also schön«, sagte sie.
»Du bist Isabella, und ich bin Kolumbus«, erklärte Winthrop, »und Ben ist König Ferdinand, und Dick ist ein eifersüchtiger Höfling. Die ganzen Leute am Hof, weißt du, wollen mir eins auswischen, und du sagst ihnen, sie sollen aufhören, und – –«
Ann holte sich mit einem Sprung einen abgeknickten Weidenzweig. Sie hielt ihn mit der linken Hand über den Kopf – die Rechte ließ den zauberhaften Revolver nicht los – schritt geziert zurück und befahl: »Auf die Knie, meine Vasallen. Nein, Ferdinand, du, du wirst wohl stehen müssen, wenn du mein Prinzgatte bist – nein, du wirst doch besser auch knien, sicher ist sicher. Nun sprecht, Kolumbus, was kann ich heute für euch tun?«
Der kniende Winthrop schrie: »Euer Majestät, ich will Amerika entdecken … Jetzt fängst du an auszuwischen, Dick.«
»Ach je, ich weiß nicht, was ich sagen soll … Hör ihn gar nicht an, Königin, der ist ja eine verrückte Nuß. Amerika gibt's überhaupt nicht. Seine ganzen Schiffe werden über den Rand von der Erde herunterrutschen.«
»Wer bestimmt hier, Höfling? Ich und sonst keiner! Natürlich kann er drei Schiffe haben, und wenn ich ihm mein halbes Königreich geben muß. Was denkst du, Prinzgatte? – dich mein ich, Ben.«
»Wer? Ich? Ach, mir ist es recht, Königin.«
»Dann vergebt euch zu den Schiffen.«
Am Flußufer lag angetäut eine alte Sandzille. Dorthin rannten die vier Kinder – Ann mit dem Revolver herumfuchtelnd. Sie lief ihnen allen voraus, sie war die schnellste und aufgeregteste. Bei der Zille rief sie: »Jetzt bin ich Kolumbus!«
»Nein, bist du nicht«, protestierte Winthrop. »Ich bin Kolumbus. Isabella und Kolumbus kannst du nicht sein! Und außerdem bist du überhaupt nur 'n Mädel. Jetzt gibst du den Revolver her!«
»Ich bin auch Kolumbus! Ich bin der beste Kolumbus. Also! Du kannst mir nicht einmal sagen, wie die Schiffe von Kolumbus geheißen haben!«
»Kann ich!«
»Also, wie haben sie geheißen?«
»Ja, jetzt fällt mir's nicht – – Du kannst ja auch nicht, du Obergescheite!«
»So, ich kann nicht, ich kann nicht, was!« krähte Ann. »Sie haben geheißen Pinto und Santa Lucia und – und die Armada!«
»Herrje, das stimmt. Da ist es schon besser, sie ist Kolumbus«, sagte bewundernd der entthronte König Ferdinand, und der große Seefahrer führte seine getreue Bemannung an Bord der Santa Lucia; der Sprung über den einen Meter breiten Wasserstreifen hatte durchaus nichts Zartes und Mädchenhaftes.
Kolumbus nahm seinen Platz am Bug ein – soweit man bei einem vorn und hinten gleich gebauten Kahn von einem Bug sprechen kann – beschattete die Augen mit der Hand, blickte über das zehn Meter breite Flüßchen hin und rief: »Ein großer, furchtbarer Sturm kommt, ihr Männer! Holt das Großsegel scharf bei! Refft alle anderen Segel! Katzen und Doria, wie das donnert und blitzt! Munter, munter, meine wackeren Männer, euer Kommandant legt mit Hand an!«
Mit vereinten Kräften bekamen sie alle Leinwand herunter, bevor der Orkan sich auf das wackere Fahrzeug stürzte. Der Orkan (vielleicht unterstützt von der Mannschaft, die sich auf eine Kante der Zille stellte und gehörig herumsprang) drohte die unglückselige Karavelle zum Kentern zu bringen, aber die Mannschaft rief tapfer hurra. Zweifellos flößte ihnen das Beispiel ihres Kommandanten Mut ein: er stand kühn da, das rechte Bein vorgestellt, die eine Hand an der Brust, in der anderen den Revolver, und rief laut: »Päng, päng, päng!«
Aber der Sturm blies gehässig weiter.
»Wir müssen ein Seemannslied singen, damit man sieht, daß wir wackere Herzen haben!« befahl Kolumbus und begann sein Lieblingslied zu singen:
»Bimmelt Glöckchen, bimmelt Glöckchen,
Bimmelt immer weiter.
Ach, so eine Schlittenfahrt
Ist doch wirklich schön und heiter!«
Der Sturm gab es auf.